Es gibt Städte, zu denen man ein Gefühl hat, lange bevor man je da war. Cottbus/Chóśebuz ist so eine Stadt. Kaum ein anderer Ort steht so sehr im Spannungsfeld zwischen tradierten Erzählungen und tatsächlicher Erfahrung. Wer über die einstige DDR-Stadt spricht, reproduziert oft Bilder, die andere gezeichnet haben – ältere Narrative, längst überholte Zuschreibungen, vermeintliche Gewissheiten. Und doch: Wer sich fernab von Schlagzeilen zum ersten Mal wirklich mit der Stadt in der Lausitz auseinandersetzt, er-
lebt etwas Überraschendes: Cottbus, die Stadt im doppelten Strukturwandel, ist ziemlich großartig und kann ziemlich viel richtig gut. Wenn da nicht diese eine Sache wäre, die sicherlich auch der Grund für dieses Magazin ist: Quer durch Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft eint die Cottbuser Akteur:innen in dieser Ausgabe die Beobachtung, dass es Außenstehenden oft schwer fällt, dieses o. g. Gefühl – die Vorurteile, die alten, reproduzierten Geschichten – zu überwinden.
Es ist eine Beobachtung über uns alle – über eine Gesellschaft, die sich zunehmend von vorgefertigten Bildern leiten lässt. Wir scrollen, schnappen Gesprächsfetzen auf, zappen durch Kanäle und nehmen impulsive Kommentare unter Postings für bare Münze. Wir leben in einer Zeit, in der wir schneller urteilen als erleben, schneller bewerten als verstehen, schneller weiterziehen als wirklich hinsehen. Orte wie Cottbus erinnern uns daran, wie groß die Lücke zwischen Erzählung und Wirklichkeit geworden ist. Dabei steckt
gerade in dieser Lücke eine Chance. Denn Cottbus ist ein Ort auf den zweiten Blick – ein Ort, der zeigt, was möglich ist bzw. wird, wenn man sich die Zeit nimmt, Wahrnehmungen zu hinterfragen.
Wer sich mit der Stadt und ihren Akteur:innen auseinandersetzt, merkt schnell: Die Offenheit lohnt sich. Das kreative Selbstverständnis einer Region im Wandel ist spürbar. Und ja, die Zukunftsprojekte dieser Stadt sind beeindruckend, aber noch beeindruckender ist vielleicht die Haltung dahinter: Nämlich ein unbändiger Wille, sich neu zu erfinden – immer und immer wieder. Aber eben auch ein unbändiger Mut, sich neu zu erzählen und erzählen zu lassen. Vielleicht braucht unsere Gesellschaft genau das: eine Kultur der zweiten Chance. Nicht als moralisches Prinzip, sondern als urbane Kompetenz. In Zeiten der Polarisierung, in denen Identitätspolitik und mediale Zuspitzungen oft die Wahrnehmung dominieren, ist diese Fähigkeit nichts weniger als ein Zukunftswerkzeug. Cottbus führt uns vor Augen, dass Wandel nicht nur aus Infrastrukturprojekten, Investitionen oder Strategiepapieren besteht, sondern aus der Bereitschaft, gängige Vorstellungen zu hinterfragen. In dieser Ausgabe erzählen wir Ihnen von einer Stadt, die mehr ist als ihr Image. Von einer Region, die bereit ist, neu entdeckt und Vorbild zu werden, sei es in Sachen Reindustrialisierung, als Wissenschaftsstandort oder Pionierin der Energiewende. Vielleicht ist das die stille Botschaft dieser metro.polis: Man muss bereit sein, einem Ort
zuzuhören, bevor man ihn bewertet. Und vielleicht sollten wir das nicht nur hier tun, sondern überall. Mit Orten ebenso wie mit Menschen. Denn: Zukunft entsteht nicht, wenn wir alle einer Erzählung folgen – sondern dann, wenn wir bereit sind, eine neue zu schreiben.